Die zeitgenössische französische Literatur – und das heißt hier: die noch nicht ‚etikettierte‘, kanonisierte, höchst ‚bewegliche‘ littérature de l’extrême contemporain, immer noch eine der vielfältigsten und lebendigsten im aktuellen Europa – reagiert wie ein hochsensibler Seismograph auf Umbrüche und Verwerfungen, kollektive Ängste und gestrandete Utopien. Ihre höchst unterschiedlichen Stimmen sprechen von prekären Lebensverhältnissen, verstörenden Brüchen, von Fremdheitserfahrungen, von der Gegenwärtigkeit individueller und/oder kollektiver Vergangenheiten, Stimmen, die in ihrer Gesamtheit ein Narrativ bilden, das Cécile Wajsbrot beschreibt als „une plaine hantée par des consciences et des ombres, un fleuve dont elles remontent le cours, un océan où elles naviguent […].“
Um diese und andere Fragen geht es, und es scheint, als böten die Begriffe „écriture migrante“ und der von – sozialen, geographischen, zeitlichen – „Migrationen“ eine Möglichkeit, diese Prosatexte auf einer thematischen Linie zusammenzuführen. „Migration“ (lat. migratio) wird hier verstanden als eine Bewegung, die Übergang, Fortgang, Übertretung, Überschreitung bedeutet.
Meine (vorläufige) Auswahl für den Vortrag anlässlich der Ringvorlesung „Wozu Dichter in dürftiger Zeit? Poesie und Literatur in posthumanen Zeiten“ am 8. Mai 2017 im Institut français Bonn umfasst folgende Werke:
Maylis de Kerangal, Naissance d’un Pont (2010; dt.: Die Brücke von Coca), Marie NDiaye, La Cheffe, roman d’une cuisinière (2016) und Mathias Énard, Boussole (2015, dt.: Kompass); ferner: Hélène Cixous, Gare d’Osnabrück à Jérusalem (2016), Didier Éribons, Retour à Reims (2007; dt. Rückkehr nach Reims), Édouard Louis, En finir avec Eddy Bellegueule (2014; dt.: Das Ende von Eddy), Shumona Sinha, Assommons les pauvres! (2012; dt.: Erschlagt die Armen!) sowie Leonora Miano, Écrits pour la parole (2012).
Flyer der Ringvorlesung Universität Bonn / Institut français Bonn